Meine Mutter, Martha Fiala stammt aus der wohlhabenden aber überaus einfachen Familie Kvaček.

Man nannte sie „Marti“ oder „Martička oder aber auch einfach „Martha“. Ich habe gerätselt, warum meine Großeltern diesen Namen gewählt haben, denn in der sonstigen Verwandtschaft und bei den Urgoßeltern kommt der Name nicht vor. Der Name hat aber eine Besonderheit, man schreibt und spricht den Namen im Tschechischen und im Deutschen gleich. Vielleicht war das der Grund.

Meine Mutter war ihr zweites Kind, das erste, mein Onkel Franz, ist im Kriegsjahr 1918 zu Hause an Tuberkulose gestorben.

Man kann sich gut vorstellen, wie Eltern ihr zweites Kind behandeln, wenn das erste in ihren Armen verstorben ist. Martha war ihr Alles auf der Welt. Sie war eine gute Schülerin, besuchte auch noch die Handelsschule, alles in tschechischen Schulen, versteht sich. Das Wien nach dem Ersten Weltkrieg war für die Tschechen, die nach dem Ersten Weltkrieg nicht nach Tschechien rückgewandert sind, ein bisher nicht gekanntes Paradies. Während vor dem Ersten Weltkrieg Repression und Assimillationsdruck geherrscht haben, entfaltete sich im Roten Wien eine neue Freiheit, die sich insbesondere am Sektor der Schulen äußerte und die auch meine Mutter in vollen Zügen konsumierte. Sie hatte damit eine viel bessere Ausbildung als ihre Eltern.

Meine Großmutter war schon relativ früh mit den Beinen am Ende und brauchte die Mithilfe ihrer Angestellten dringend, oft auch als Kindermädchen für meine Mutter. Da gab es einerseits ein Nachbarsmädel, Antonie Urbanek (später verheiratete Pohanka) der sich meine Großmutter verpflichtet fühlte und anderseits meine Tante Hanni (Johanna Hirmann), die gelernte Stepperin war aber dann auf mir unbekannte Weise zu den Kvaček gekommen ist.

Tante Hanni holte meine Mutter von der tschechischen Volksschule in der Brehmstraße ab – das muss also zwischen 1928 und 1936 gewesen sein – ging mit ihr beim Lebensmittelgeschäft von Tante Maria in der Hauffgasse 12 vorbei und meine Mutter bekam dort regelmäßig Süßigkeiten. Klingt zwar lieb, war aber schlecht für die Zähne, insbesondere, wenn man bedenkt, dass die Großeltern nicht besonders auf solche Sachen geachtet haben.

Die Erziehung durch die Mutter war eine zur Arbeit und zu Fleiß, die Erziehung durch den Vater war eine zur Geselligkeit und zum beschwingten Lebensstil. Die geselligen Zeiten in ihrem Kritzendorfer Domizil waren eher die Sache des Vaters, die Zeiten im Geschäft eher die Sache der Mutter.

Sie hatte auch Disziplin. Irgendwann als junges Mädchen, vielleicht mit 12 Jahren, das wäre dann etwa 1933 gewesen, bekam sie von Ihren Eltern ein Ehrbar-Pianino.

Das Klavier war nicht nur Verzierung, sie hat auch sehr intensiv spielen gelernt. Neben einem etwa einen Meter hohen Stapel von Einzelnoten hatte sie etwa 20 „Sang und Klang“-Bände, Klaviermusik des 19. Jahrhunderts. Und aus diesen Bänden konnte sie vom Blatt ziemlich komplizierte Stücke spielen, auch noch nach vielen Jahren der Klavier-Abstinenz. Es imponiert mit allein deshalb, weil ich selbst auch auf diesem Pianino spielen gelernt habe aber durch verschiedene Umstände der erzieherischen Inkonsequenz immer wieder im kontinuierlichen Aufbau der Fertigkeit an den Tasten abgehalten wurde.

Zu dem Pianino gesellte sich 1939 ein nußbaum-furniertes Jugend-Zimmer, bestehend aus Bett, dreiteiligen Schrank, Sekretär, Tisch mit Sesseln. Den Sekretär und das Pianino besitzen wir immer noch.

Die gänzlich in der tschechischen Gesellschaft verlaufende Jugend meiner Mutter hatte auch lustige Seiten. Schon früh hat sie im Geschäft der Eltern mitgearbeitet und auch die ihr wohlbekannten KundInnen bedient. Das war kein Problem, viele von ihnen waren ohnehin Tschechen. Auch meine Tante Hanni war damals bereits als Verkäuferin im Lebensmittelgeschöft der Eltern beschäftigt. Sie war es, die erzählte, wie es war, wenn ein Lieferant im Geschäft auftauchte und die Übernahme der Lieferung abzuwickeln war. Da meine Mutter in diesen Details, speziell aber in der deutschen Sprache, noch nicht sattelfest war, sagte sie zum Lieferanten immer: „komm‘ in kíche“, denn dort, in der Küche war ihre Mutter, die dann die Lieferung annahm.

Man sieht, dass das Deutsch noch recht böhmisch klang. Aber das war in den Dreißiger Jahren. Soweit ich mich selbst erinnern kann, sprach meiner Mutter ein sehr schönes, völlig akzentfreies Deutsch, ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter, die immer in diesem unnachahmlichen Kauderwelsch aus Deutsch und Tschechisch plauderte. Wir verstanden es selbstverständlich aber weder Deutsch-Sprechende verstanden alles aber auch Gäste aus Tschechien wussten nicht mit allen Wörtern etwas anzufangen.

Ein brutaler Bruch in der Ausbildung an der Handelsschule in Vorgartenstraße war das Jahr 1938, denn bereits das Sommerzeugnis war in deutscher und nicht mehr in tschechischer Sprache abgefasst. Die tschechischen Lehrer wurden entlassen und die Schule unter deutsche Verwaltung gestellt.

Da es ihr letztes Schuljahr war, machte das weiter nichts aus und sie arbeitete von da an im Geschäft der Eltern.

Die Kriegsjahre vergingen ohne besondere Ereignisse, jungen Menschen sind Kontakte wichtiger als der Aufenthalt im Lufschutzbunker, wie mir oft erzählt wurde.

Freunde und Freundinnen

Martha Fiala, 1944
Martha Fiala am 14.4.1944

Alle Freunde und Freundinnen waren aus der tschechischen Gesellschaft aber es gab auch Ausnahmen, wie uns das schönste Bild zeigt, das ich von meiner Mutter besitze, gemalt von einem später sehr bekannten Künstler, damals aber, 1944, ein Jugendfreund meiner Mutter. Er wurde aus Griechenland nach Wien deportiert, war Zwangsarbeiter in der Simmeringer Waggonfabrik und lernte im nahe gelegenen Lebensmittelgeschäft meine Mutter kennen.

Die späteren Ehepartner ihrer Freunde und Freundinnen waren überwiegend eingesessene Wiener, mit der Folge, dass die Sprache in der jeweiligen Familie von tschechisch auf deutsch gewechselt wurde.

Iki Kincl (verheiratete Rauscha). Herr Dr. Rauscha war unser langjähriger Hausarzt. Er und seine Frau leben noch in Gießhübl. Ihr Sohn, ebenfalls Arzt, hat die Ordination des Vaters übernommen.

Helly Šlosar (verheiratete Tůma) war die erste Frau des Sohnes meines Großonkels Ottokar Tůma.

Antonie Přinesdoma (verheiratete Effenberger). Die Effenberger hatten ein um ein Jahr ältere Tochter, Martha, die wie ich die Realschule in der Gottschalkgasse besuchte und auch zur selben Klavierlehrerin in der Hackelgasse ging, zu Frau Kasimira Kases. Einmal, vielleicht mit 12 Jahren spielte ich mit Martha in einem Klavierkonzert im Höger-Hof. Von diesem Event gibt es auch Fotos.

Albín Kafka war ein Gärtner und wäre der Wunsch-Schwiegersohn meiner Großeltern gewesen.

Wie meine Großeltern mit Albin bekannt wurden, ist nicht bekannt. Aber von Albins Töchtern habe ich erfahren, dass sie ihn in den Vorkriegsjahren bei sich bewirtet haben müssen. Er war der Berater meines Großvaters in gärtnerischen Belangen. Diese Beratung brauchte mein Großvater, weil es den neuen Besitz, eine Wiese mit Hütte in Kritzendorf bewirtschaften musste.

In dieser Zeit lernten sich meine Mutter und Albin näher kennen und diese Freundschaft währte bis etwa 1945. Es war eine Fernbeziehung, denn Albin übersiedelte wegen besserer Beschäftigungsbedingungen nach Berlin. In all diesen Jahren gab es zwischen Albín und Martha einen regen Briefwechsel.

1942 besuchte meine Mutter gemeinsam mit tschechischen Freunden Albín in Berlin.

Am 3. Juli 1949 wanderte Albín mit seiner zukünftigen Frau nach Canada aus, am 1. Juli, 1953 heirateten sie. Noch bis in die 60er Jahre schickte Albín meiner Großmutter eine in Kanada erscheinende Zeitung in tschechischer Sprache (Nový Domov). Wie mir die Tochter von Albín per E-Mail mittteilte, wurde diese Zeitschrift in Masaryktown im Masaryk Momorial Institute verlegt. Albín war ein sehr erfolgreicher Gärtner in Kanada geworden.

Etwa 1983 war Albín in Wien und besuchte meine Mutter. Wegen ihres bereits stark angegriffenen Gesundheitszustandes war aber dieses Treffen wenig erfreulich.

Ich musste Albín 1987 die Todesnachricht meiner Mutter zustellen und er hat sich danach auch bei mir gemeldet. 2007 verstarb er 88-jährig an Krebs.

Dass ich diesen Albín im Internet aufspüren konnte, lag daran, dass er ein großer Orchideenspezialist war und seine Pflanzensammlung einem sehr bekannten botanischen Garten vermacht hatte. Durch diese Hinweise im Internet bekam ich Kontakt zur Familie Kafka und 2015 kam es zu einem Treffen mit seinen Töchtern Linda und Monika in Wien, bei dem wir neben einer Stadtrundfahrt auch Albíns Aufenthaltsorte in Simmering besuchten.

Josef Kselík war ein Tscheche aus dem mährischen Bošice. Er war Imker und später sehr erfolgreich mit seinem Beruf. Er war mehrere Male bei uns in Wien zu Besuch.

Anna Kuchárek (Konečný) meine spätere Taufpatin war die Tochter eines weiteren tschechischen Lebensmittelhändler-Familie in der Simmeringer Dorfgasse (heute Mautner-Markhof-Gasse).

Josef Šlosar und Josef Kincl waren Altersgenossen meiner Mutter aus dem Kreis der Simmeringer Tschechen,

Es wird noch eine Menge weiterer Freunde und Freundinnen gegeben haben, die ich aber nicht mehr so intensiv wahrgenommen habe.

Verwandtschaft

Meine Mutter unternahm viele Reisen nach Tschechien. Die meisten wohl zur Familie ihres Vaters, zum Onkel Josef und zur Tante Hromádka. Daneben fuhr sie auch oft zur meiner Ruftante Toni (Antonie Pohanková) nach Nýrsko (Neuern) im Böhmerwald.

Turnverein Sokol

Als tschechische Nationalistin hielt sie viel von den Mega-Events des Sokol. Sokol ist ein tschechischer Turnverein, dessen Ziel einerseits die Ertüchtigung des Volks durch Sport ist (Ertüchtigung mit welchem Ziel?) und ein bisschen auch die Glorifizierung des Tschechentums. Das Stadion konnte gar nicht groß genug sein, um diese Spartakiaden in Szene zu setzen. (Parallelen zu den deutschen Großveranstaltungen sind deutlich.)

Die erste Spartakiade, die ich – noch im Mutterbauch – miterleben musste, war im Sommer 1948 in Prag im Stadion Letná (das war auch gleichzeitig die letzte auf tschechischen Boden, denn mit der Übernahme der Macht durch die Kommunisten war das Ende der Sokol-Vereine in Tschechien gekommen), die zweite 1962 (?) in Wien im Franz-Horr Stadion (damals Tschechisches Herz Platz) und die dritte 1982 (?) in Zürich im Letzigrund-Stadion. Bei der letzen war aber meine Mutter nur Zuschauerin, bei den ersten beiden aber hat sie mitgeturnt. In Zürich sind Silvia und ich mitgefahren. Im Anschluss an diese Veranstaltung habe wir auch noch eine Reise durch das Schweizer Bergland angeschlossen; meine Mutter war begeistert, weil sie eine große Sehnsucht nach Bergen hatte.

Wiener Tschechen

Meine Mutter war in allen möglichen Vereinen der Wiener Tschechen aktiv. In Simmering sowieso, da war sie auch mit der Organisation des alljährlichen Balls beschäftigt; aber immer, wenn es möglich war, nahm sie auch an Veranstaltungen des 3. und 16. Bezirks teil. Unterhaltung hat ihr viel bedeutet.

Tschechische Blasmusik

Was heute Andreas Gaballier, war für meine Mutter der Rudi (Toni?) Schaffler mit seiner böhmischen Blasmusik. Wer ein bisschen in diesen Stil hineinhört, kann tatsächlich einen angenehm warmen Ton der Bläser vernehmen, der entweder durch eine besonderen Notensetzung oder durch spezielle Instrumente zustande kommt, die in typisch alpenländischen Blasorchestern nicht verwendet werden. Sie war ein echter Fan von Schaffler, kann man sagen und sie wäre ihm, wie ein heutiger Fan, weit nachgefahren, hätte sie erfahren, wo er spielt. Wir haben eine ganze Reihe von Tonbandaufnahmen ihrer Mitschnitte vom Radio, die sie in der Wohnung spielte wie es sonst Teenager tun. Mein Vater wurde durch die flotten Klänge ebenfalls aus seiner Briefmarkensammlerei aufgeschreckt und sang mit den Liedern mit.

Erkrankung

Meine Mutter lebte in Träumen von der Vergangenheit, von einer besseren Zukunft und bei fröhlichen Veranstaltungen. Die Ursprünge dieser Lebensart lagen sicher schon in der Kindheit, wo sie – als Kind, für das alles gemacht wird – den Bezug zur realen Welt verloren hat. Immer in der Illusion von einer besseren Welt lebend. Eine dieser Illusionen war folgende: „unser Franzi – also ich – wird einmal in Kritzendorf ein Haus bauen und wir werden dort alle ein Zimmer haben“. Das war keine Phantasie eines Augenblicks, das wurde immer wieder erzählt. Dann meinte sie, dass sie glücklich wäre, in den Bergen Urlaub machen zu können, dann wäre alles gut. Sie hat nie Urlaub in den Bergen gemacht und wenn (wir waren einmal in der Schweiz) war es auch nur eine flüchtige Begegnung, dann hatte sie der Alltag wieder, ein Alltag, dem sie nichts Freundliches abgewinnen konnte. Dazu kam, dass ihr Vater ihr (unbewusst) ein Mittel gegen diese Alltagsdepression empfohlen hat: den Wein. Die Harmonie eines gelungenen Arbeitstags hat sie nicht als solche empfunden.

Das brachte sie einmal in eine Krankenhaus zu einer Gallenoperation, sie war vielleicht 45 Jahre alt. Dann 1982, nach dem Tod meines Vaters, wurde ihre Alkohol-Abhängigkeit so stark, dass wir sie in das Krankenhaus Maria Ebene in Frastanz, Vorarlberg bringen mussten. Bei dieser ersten Fahrt nach Maria Ebene fuhr auch meine Tante Toni mit, die nach dem Tod ihres Mannes viele Monate bei uns verbracht hat und in größter Sorge um meine Mutter gelebt hat. Dieser erste Aufenthalt in Maria Ebene hat meiner Mutter sehr geholfen. Sie hat sich erholt und eigentlich schaute alles gut aus. Warum es dann doch nicht so gut war, wie es schien? Wahrscheinlich war es für sie, die Geselligkeit über alles liebte, die Einsamkeit in der leeren Wohnung, die sie wieder in die Arme des Alkohols trieb.

Wir lebten schon in Favoriten und es war in der Zeit als wir unser Adoptivkind übernahmen. Genau in dieser Zeit verschlimmerte sich ihr Zustand und sie erhoffte sich neuerlich Hilfe in Maria Ebene und wir brachten sie tatsächlich in ihrem angeschlagenen Zustand dorthin. Sie konnte kaum noch gehen. Man musste sie dort aber in ein Krankenhaus nach Bludenz (?) überstellen, von wo wir sie neuerlich abholten und ins Wiener AKH brachten. Das war im Sommer 1987. Im AKH bekam sie eine schmerzhafte Gürtelrose und viele Wochen vergingen, bis sich diese Erkrankung zurückentwickelte. Während dieser Zeit bekam sie Infusionen, die offenbar ihre Ernährung übernahmen und die fehlenden Leberfunktionen ersetzten. Nach Abklingen der Gürtelrose wurde sie als Pflegefall in das Pflegeheim Liesing überstellt. Dort war sie aber nur eine Woche, dann starb sie. Sie hat unseren Florian noch gesehen aber sie war – offenbar wegen ihrer eigenen Qualen – nicht sehr erfreut darüber, dass wir ein Kind hatten. Ein schreckliches Ende für eine zutiefst unglückliche Frau.

Artefakte

An meine Mutter erinnert eine (schon sehr stark verkleinerte) Sammlung von Bleikristall-Gegenständen, die sie bei ihren Reisen nach Tschechien mitgebracht hat.

Weiter haben wir von ihr Teile ihres Jugendzimmers: den Sekretär in Scheibbs und das Pianino in Wien.

Weiters gibt es einige Schmuckgegenstände, die meine Frau bei Theaterbesuchen verwendet.

Meiner Schwiegermutter haben wir auch einen Pelzmantel und eine Kroko-Tasche geschenkt.