Berühmte Wiener Tschechen

Seit dem 19. Jahrhundert gab es Wanderungswellen von Böhmen und Mähren nach Ostösterreich, überwiegend nach Wien; aber auch in die Gegenrichtung, besonders nach den Weltkriegen. Saisonarbeiter am Bau und in den Ziegeleien bezeichnete man als „Böhmische Schwalben“, weil sie im Herbst in ihre Heimatdörfer zurückkehrten und im Frühling wiederkamen.

Die folgende Grafik zeigt die Anzahl der Tschechen in Wien seit 1850.

Der Umstand, dass man das Wien um 1900 als die damals wahrscheinlich größte tschechische Stadt bezeichnet, illustriert ihre Bedeutung. Gezählt wurden bis zu 400.000 Tschechen. Wahrscheinlich waren es aber viel mehr, denn die jährliche Volkszählung wurde in den Dezember verlegt, um die Anzahl der Fremden gering erscheinen zu lassen.

Immerhin leben auch heute noch etwa 10.000 Menschen mit tschechischer Umgangssprache in Wien. Sie sind in zahlreichen Vereinen organisiert und publizieren seit 1948 u.a. die Wochenzeitung „Vídeňské svobodné listy“ (Wiener freie Blätter).

Die Wiener Tschechen feiern 2022 mit zahlreichen Veranstaltungen den 150-jährigen Bestand des Schulvereins Komenský.


Am 28. März 1977 beschrieb Bruno Kreisky die Rolle der Wiener Tschechen so:

Die Wiener Tschechen haben in einer so einzigartigen Weise das Antlitz Wiens mitgeformt und so auch das Bild Österreichs mitgestaltet, daß ich kaum ein anderes Beispiel auf diesem alten Kontinent kenne, das einem ähnlichen Integrationsprozeß der Völker unterworfen wäre.“  (Brousek, 1980, S. 8)

Dieser Satz wäre in früheren Jahrzehnten wohl nicht so ausgesprochen worden, doch 1977 war die Zahl der Tschechen durch Assimilation schon so gering, dass man ihre Gruppe nicht mehr als eine Gefahr – wie unter Lueger – sondern als einen liebgewordenen Teil der Stadt verstand.

Kreisky selbst war tschechisch-stämmig – seine Mutter, eine geborene Felix, stammte aus dem südmährischen Znaim – und daher der Archetyp eines assimilierten Wiener Tschechen.

Die Wiener Tschechen waren – und sind immer noch – in allen Lebensbereichen präsent. Das folgende Bild zeigt eine Auswahl berühmter Wiener Tschechen:

Max Böhm, Matthias Sindelar, Bruno Marek, Franz Jonas, Walter Zeman, Karl Renner, Karl Blecha, Viktor Adler, Clemens Maria Hofbauer, Fritz Wotruba, Alois Miesbach, Helmut Zilk, Ferdinand Lacina, Heinrich Drasche, Sigmund Freud

Die meisten in diesem Bild wurden in Böhmen oder Mähren geboren, immer aber ihre Eltern. Viele besuchten eine Wiener tschechische Schule des Schulvereins Komenský, prominentestes Beispiel ist Franz Jonas.

Wollte man in der Monarchie als Tscheche in Wien Karriere machen, war rasche Eindeutschung angesagt. Aus Votruba wurde Wotruba, aus Jonáš wurde Jonas aus Šindelář wurde Sindelar usw. Mit dem Zusammenbruch der Monarchie wurden die Wiener Tschechen mit tschechischem Heimatschein plötzlich Ausländer. Meine Großeltern bekamen erst 1950 die Österreichische Staatsbürgerschaft.

Diese Liste ist ein bisschen mit Vorsicht zu genießen, weil bei einigen zwar der Geburtsort in Böhmen oder Mähren lag (Viktor Adler, Heinrich Drasche, Alois Miesbach), sie aber möglicherweise der dortigen deutschsprachigen Minderheit angehört haben. Auch bei Karl Blecha ist es mehr der tschechische Name als seine Zugehörigkeit zur Minderheit der Wiener Tschechen. („Blecha“=“Floh“).

Auswahl berühmter Tschechen in Wien


Religion

Klemens Maria Hofbauer

*1751 Südmähren  †1820 Wien

Hofbauer wurde als eines von zwölf Kindern des böhmischen Viehzüchters und Fleischers Pavel Dvořák und der deutschstämmigen Mutter Maria (geborene Steer, bäuerlicher Herkunft) geboren und auf den Namen Johannes getauft. Der nach Südmähren zugewanderte Vater änderte anlässlich der Hochzeit seinen Namen in einen deutschsprachigen, wobei Hofbauer ein Äquivalent von Dvořák ist. Mit sechs Jahren verlor Klemens Maria Hofbauer seinen Vater.

Hofbauer war ein tschechisch-österreichischer Priester, Prediger und Mitglied des Ordens der Redemptoristen. Seit 1918 Stadtpatron von Wien. Der Stammsitz der Redemptoristen und der Tschechen in Wien allgemein ist die Kirche Maria am Gestade.


Kunst

Fritz Wotruba

Abbildung 196: Fritz Wotruba

Sohn eines tschechischen Schneiders und eines ungarischen Dienstmädchens.

Maxi Böhm

Wuchs in Teplice (Böhmen) auf.


Politik

Karl Renner

Stammt aus Untertannowitz, Mähren, maturierte in Mikulov.

  • 1918-1920 Staatskanzler
  • 1945-1950 Bundespräsident

Franz Jonas

Josef Jonáš kam 1890 aus Kamenice/Mähren als Arbeiter nach Wien. Sein Sohn Franz (* 4. Oktober 1899 in Floridsdorf; † 24. April 1974 in Wien) besuchte die tschechische Schule. Die ehemalige tschechische Schule in Jedlesee ist als „Franz-Jonas-Europaschule“ nach ihm benannt.

  • 1951-1965 Bürgermeister
  • 1965-1974 Bundespräsident

Bruno Marek („Markus“)

Sohn eines tschechischen Schneidermeisters.

  • 1965-1970 Bürgermeister

Felix Slavik („Nachtigall“)

  • 1970-1973 Bürgermeister

Helmut Zilk

Sohn eines böhmischen Zeitungsangestellten aus Favoriten.

  • 1983-1984 Unterrichtsminister
  • 1984-1994 Bürgermeister

Ferdinand Lacina („Billig“)

Lacinas Eltern stammen aus der Tschechischen Minderheit in Wien.

  • 1980-1981 Kabinettschef
  • 1982-1984 Staatssekretär
  • 1984-196 Bundesminister für Verkehr
  • 1986-1995 Bundesminister für Finanzen

Karl Blecha („Floh“)

  • 1983-1989 Innenminister
  • 1999-2018 Präsident des Pensionistenverbandes

Bruno Kreisky

Kreisky selbst war kein Tscheche doch soll uns die Familie seiner Frau daran erinnern, wie weit verbreitet tschechische Vorfahren im Wiener Raum sind. Kreiskys Frau hieß mit dem Mädchennamen Irene Felix. Die Familie stammte aus Znaim in Mähren.

Familie Felix musste 1939 fliehen und entschied sich für Schweden. Herbert Felix baute dort die AB Felix auf. Nach dem Abzug der Alliierten 1955 schlug Bruno Kreisky seinem Cousin vor, in Österreich zu investieren. Das Ergebnis genießen wir noch heute in Form der Felix-Konserven.

  • 1970-1983 Bundeskanzler

Wirtschaft

Die Ziegelbarone Alois Miesbach und Heinrich Drasche stammten beide aus Mähren. Sie begründeten den Wienerberger-Konzern, damals und auch heute noch der größte Ziegelproduzent der Welt.


Sport

Sport ist ein wunderbarer Integrationsfaktor und vor allem auch Integrationsindikator. Aus dem Kreis der Ziegelböhm sind viele gute Fußballer hervorgegangen, der bekannteste unter ihnen waren wohl Matthias Sindelar und Walter Zeman.

Matthias Sindelar (Matěj Šindelář, „Schindler“)

*10. Februar 1903 Kozlau †23. Jänner 1939 Wien.

Familie Šindelář wohnte in der Quellenstraße 75/1, Ecke Steudelgasse. Johann, der Vater, arbeitete in einer Ziegelei. (Francka, 2018, S. 28)

Walter Zeman („Gutsherr, Edelmann“)

Seine Familie lebte in einem Arbeiterwohnhaus am Wienerberg, Triesterstraße 477. Zwar gab es seit 1913 die nahegelegene Volksschule an der Triesterstraße („MA 2412“), doch wurde die in eine deutsche Lehrwerkstätte umgewandelt. Walter wurde täglich von einem Schulbus zur tschechischen Komensky-Schule in der Wieland-Gasse gebracht. Er war ein Schulkollege meiner Tante, die auch diese Schule besuchte.

„Panther von Glasgow“ oder „Tiger von Budapest“ nannte man ihn. Nach ihm ist die „Walter-Zeman-Gasse“ im 22. Bezirk benannt.


Der Autor stammt aus dem Kreis der Simmeringer Wiener Tschechen, ein kleiner Staat im Staat, gebildet aus einer Handvoll eng befreundeter und verwandter Familien. Die Großeltern-Generation ist von Mähren an Wien ausgewandert. Heute würde man sie als Wirtschaftsmigranten bezeichnen. Meine Umgangssprache bis zum 10. Lebensjahr war Tschechisch. Damals gab es keine tschechische Mittelschule, doch der Franz hatte ehrgeizige Eltern und wechselte von der der tschechischen Volksschule am Sebastianplatz in die deutsche Mittelschule in der Gottschalkgasse. Der Anfang vom Ende der tschechischen Umganssprache.