Ludmilla Carda ist meine Tante, eigentlich ist sie die Cousine meiner Mutter aber durch die engen Beziehungen innerhalb der Familie war sie viel mehr als eine Tante. Eigentlich war sie wie eine zweite Mutter, aber dazu später.

Genannt wurde sie nur „Milli“ oder „Miluška“, „Ludmilla“ sagte niemand zu ihr.

Meine Tante Milli hatte drei deutlich getrennte Lebensphasen mit drei unterschiedlichen Wesenszügen. Diese haben natürlich alle anderen auch, nicht nur meine Tante, aber bei ihr handelte es sich um deutlicher unterschiedliche Persönlichkeiten.

Ihren ersten Lebensabschnitt, ihre Jugend, kenne ich natürlich nicht. Was ich weiß, ist, dass sie eine sehr gute Schülerin gewesen sein muss und dass sie die Handelsschule nicht zu Ende geführt hat, weil ihre Mithilfe im elterlichen Lebensmittelgeschäft gebraucht wurde. Sonderbarer Weise besuchte sie nicht die nahe gelegene tschechische Schule in der Brehmstraße sondern die Schule in der Waldgasse im 10. Bezirk. Auch besuchte sie nicht – wie etwa meine Mutter – die tschechische Handelsschule sondern eine Privatschule im ersten Bezirk. Da sie offenbar im Geschäft mithelfen musste, beendete sie im Dezember 1924 diese Schule mit einem sehr freundlichen Vermerk seitens der Direktion, dass man ihren Austritt bedauert, weil sie eine sehr gute Schülerin war und dass sie jederzeit wieder in der Schule beginnen könne.

Wenn ich nur wüsste, wie sie diesen Franz kennen gelernt hat, mit dem ihr zweiter Lebensabschnitt begann. Jedenfalls hat sie ihn schließlich im Juli 1931 geheiratet und ist mit ihm in das Haus meiner Großmutter in die Lorystraße 17/17 gezogen.

Mit dieser Heirat kam sie auch in eine – gegenüber unserer Familie – gehobene Schicht. Ihr Schwager Karl war Direktor bei Elin und auch ihre Schwägerin Albine Fritsch hat eine „Gute Partie“ gemacht.

In dieser Ehe war äußerlich alles perfekt. Es gab einen Dirigenten, den Franz und eine Frau, die ihm zu Diensten war. Das Verhältnis war nicht gerade ein modernes. Eher islamisch, ohne Kopftuch. Die Persönlichkeit meiner Tante war die einer Sklavin; sie existierte nicht.

Natürlich ist mir das als Kind nicht besonders aufgefallen, es war einfach so. Im Gegenteil, ich habe diese penible Ordnung, auf die mein Onkel größten Wert legte, sogar bewundert. Alles war geplant, natürlich auch die Ferien. Zwei/drei Wochen große Fahrt in Europa, zwei Wochen in Österreich zur Erholung und eine Woche Kritzendorf, das war obligatorisch. Anders als andere Gäste hatten die Carda ihr zusammengeschnürtes Bettzeug am Dachboden. Beachtlich war, dass dem gestrengen Herrn Direktor die Einfachheit unserer Hütte nicht doch zu einfach war. Zähneputzen bei Schönwetter beim Brunnen, das ging ja noch, aber es war wie bei einem Camping-Urlaub. Man musste bei jedem Wetter vor’s Haus.

Diese Tyrannei hatte mit dem Tod des Direktors ein jähes Ende. Onkel Franz starb an einem Herzinfarkt einige Monate nach meinem Großvater im Alter von 63 Jahren.

Die Zeit danach war für meine Tante eine Art Suche nach dem eigenen Ich, das ihr in diesen Ehejahren abhanden gekommen war. Aber sie schaffte es in kurzer Zeit, trotz ihrer Einsamkeit sich zu einer sehr selbstbewussten Frau zu wandeln.

Sie bemühte sich, gemeinsam mit meiner Großmutter, mir die Grundbegriffe der Hausverwaltung zu vermitteln. Selbst verwaltete sie das Haus in der Sedlitzkygasse 14, und eigentlich auch das Haus in der Lorystraße 17, denn die wichtigen Ratschläge kamen immer von ihr.

Wenn man ihre Dokumente und ihre Schriftstücke studiert, hat man den Eindruck, als hätte sie alle diese Fertigkeiten von ihrem Mann gelernt und übernommen. Die Präzision des Carda war ein bisschen durch die eher schlampige Art der Pohan überlagert aber es erschien, als hätte ihr verstorbener Mann es ihr diktiert.

So kannte ich sie bis zu ihrem Tod. Krank war sie nie. Und auch als sie von ihrer letzten Reise zu Familie Hradil nach Zlín fuhr, schien sie völlig gesund. Nur klagte sie darüber, dass sie sich offenbar bei offenen Fenster im Zug verkühlt hätte. Wer denkt sich schon etwas dabei. Schließlich hat ihr Hausarzt ihr einen Krankenhausaufenthalt verordnet und die selbstsichere Art, wie sie alles in der Hand hatte, duldete keinen Widerspruch. Ich fuhr mit ihr mit dem Wagen zur Baumgartner Höhe, wir suchten das Zimmer und vereinbarten, dass ich sie wieder holen kommen würde.

Es war das letzte Mal, dass ich mit meiner Tante sprach. Ich fuhr nach Scheibbs und nach ein oder zwei Tagen fuhr ich sie besuchen. Sie erkannte mich nicht mehr. Leukämie! In weiteren zwei Tagen verstarb sie.

Sie war nie wirklich alt oder gebrechlich. Wenn auch ihr Gesicht mehr Falten aufwies, ihr Wesen war immer jugendlich, aufgeschlossen, hoch interessiert an der Tagespolitik, ganz ähnlich wie meine Großmutter aber eben jünger und mit einer viel besseren Ausbildung.

Als ich einmal über unsere Familiensituation nachgedacht habe, meinte ich, dass ich eigentlich vier Mütter gehabt habe. Meine Mutter, ist ja klar. Aber die zweite Mutter war meine Großmutter, denn sie war während der prägenden Kinderjahre praktisch ausschließlich bei mir. Dann war da meine Tante Milli. Sie war immer für mich da, freute sich über jeden Erfolg, war besorgt und fürsorglich. Schließlich war da auch noch Tante Hanni. Sie war eigentlich die Ersatzmutter für meine Mutter. Aber es gab auch die Zeit, dass sie und ihr Mann, mein Onkel Ludwig, mit mir allein in Kritzendorf waren und sie mir aus ihrer Jugend erzählte, wie sie zu meiner Großmutter kam aber ich Esel habe geglaubt, mir das alles merken zu können. Leider erinnere ich mich nicht mehr an viele dieser Details.

Meine Mutter hatte es schwer mit dieser Konkurrenz, denn sie war am Tag, wo Kinder aktiv sind, nicht im Haus sondern im Geschäft.

Diese drei Mütter (meine Großmutter starb 1968) waren immer für mich da. Ich konnte zu ihnen kommen, so, als wäre würde ich bei ihnen wohnen. Es war einfach, denn sie wohnten alle im selben Haus; wie eine Großfamilie. Alle diese drei Mütter starben innerhalb eines Jahres; zuerst meine Mutter, dann meine Tante Milli und schließlich auch meine Tante Hanni. Und nicht einmal haben wir vermutet, dass diese enge Beziehung zwischen den Frauen auch irgendwie ihren fast gleichzeitigen Tod zur Folge hatte.

Was tun mit zwei vollgestopften Wohnungen, was tun mit einer riesigen Briefmarkensammlung? Ich hatte im TGM einen Ganztagsjob. Da war die Räumung von Wohnungen im Wochenplan nicht gut unterzubringen. Wie ich auf diese Idee gekommen bin, Familie Hradil aus Zlín zu bitten, in der Wohnung meiner Eltern zu wohnen und diese Aufräumarbeiten für uns durchzuführen, weiß ich nicht, aber es war genial. Radka und Gustav sahen es nicht als Arbeit an und waren im Gegenteil erfreut über die Möglichkeit, den Nachlass meiner Verwandten aufzuarbeiten, immerhin waren sie mit ihnen seit Kindestagen in Kontakt gewesen. Und im Zuge dieser Arbeiten erfuhr ich auch eine Menge über die Jugendjahre meiner Eltern.

Nach dem Tod meiner Mutter im November 1987 räumte Familie Hradil zunächst die Wohnung meiner Eltern. In dieser Zeit – es war nicht viel mehr als ein halbes Jahr, bis Sommer 1988 – sind sich Familie Hradil und meine Tante Milli näher gekommen, weil meine Tante sich bei den Aufarbeitungen der Wohnungsinhalte beteiligt hat. Es ging auch darum, dass Herr Hradil als Briefmarkenspezialist die Briefmarkensammlung meines Vaters verkauft. Darüber gibt es genaue Aufzeichnungen. Das Ergebnis in kurzen Worten: wer wegen eventueller Gewinne Briefmarken sammelt, sollte etwas anderes mit seiner Zeit anfangen.

Die Wohnung der Eltern war fertig geräumt und Familie Hradil fuhr wieder nach Zlín und im Sommer 1988 besuchte sie dort meine Tante. Das war eine Besonderheit, denn meine Tante hatte außer uns keine weiteren Verwandten und sie freute sich sehr über diese Einladung. Leider war das eben ihre letzte Reise, sie starb im Sommer 1988 innerhalb weniger Tage an Leukämie.

Der Herbst brachte daher wieder einen Job für Familie Hradil. Wieder kamen sie nach Wien und verarbeiteten den Nachlass meiner Tante Milli.

Das Wohnzimmer

Und dabei erzählten sie mir über das Wohnzimmer meiner Tante (dorthin kam man als Besucher nicht, wir saßen gewöhnlich immer in der Küche an einem kleinen Tisch beisammen). Alle Möbel waren praktisch neu. Alle waren mit Kunststofffolien abgedeckt. Diese Möbel waren eigentlich für Silvia und für mich bestimmt, auch die Wohnung selbst. Dass sich die Dinge anders entwickelten, dass wir nicht in der Lorystraße 17 sondern in Favoriten wohnen würden, dass konnte ja niemand wissen.

Der unsichtbare Schrecken einer Ehe

Die schrecklichste Erzählung aber war, dass meine Tante den Hradil über ihre Ehe berichtete und dass sie mehrere (!) Abtreibungen erleben musste, weil ihr Mann sich nicht vorstellen konnte, Kinder zu haben, da er sich dazu zu alt vorkam. „Kinder sollen einen Vater aber keinen Großvater haben“. meinte er. Meine Tante aber wünschte sich nicht sehnlicher als ein Kind. Und das ihr am nächsten stehende Kind war ich. Daher entwickelte sich auch in mir die Idee von den vier Müttern, weil ich auf eine besondere Art von gleich vier Frauen betreut wurde, die alle meine Mutter hätten sein können und es phasenweise auch waren.

Mädchenname „Peksa“

Meine Tante war die Tochter von Joste und Maria Peksa (geborene Pohan). Der Name „Peksa“ ist im Tschechischen weit verbreitet, genauso wie das gleichklingende „Pexa“. Aber beide Namen haben keine Bedeutung. Ein Lehrerkollege betrieb aber echte Ahnenforschung und kam mit seinen Recherchen bis in die Zeit des 30jährigen Kriegs. Und damals, in der Zeit der Landsknechte, warb der Kaiser Söldner an, viele auch aus Spanien. Unter diesen Söldnern gab es einige mit dem Namen „Pescador“ (=“Fischer“) und „Pesca“ (=“Angel“). Einige diese Söldner wurden in Böhmen sesshaft. Es soll zu einer Namensveränderung durch Vertauschung der Buchstaben SC in CS gekommen sein, vielleicht, weil „pes“ im Tschechischen Hund bedeutet.

Artefakte

  • Ein weiß lackiertes Schammerl, auf dem sie immer saß, wenn wir zu Besuch waren. Wir saßen auf eine kleinen Bank und sie saß davor auf dem Schammerl.
  • Einen kleinen Ladenschrank, in dem wir Socken und Strümpfe aufbewahren.
  • Einen Mörser.
  • Eine Waage mit einem Satz Gewichte.
  • Meine Tante war sehr kunstsinnig. Die viele Reisen mit ihrem Mann hatten ihr Verständnis für Kunst aufgebaut. Ihre Sammlung von Kunstbüchern haben wir immer noch.