Meine Eltern sind Martha Fiala (geborene Kvaček) und Josef Fiala.

Beide stammen aus der Gesellschaft der Wiener Tschechen. Das bedeutete, dass es praktisch nur Kontakt zu tschechisch-sprechenden Personen gab. Ausnahme war natürlich der Beruf, die Schule. Aber engere Beziehungen zu deutsch-sprechenden Familien gab es nicht.

Meine Eltern betrieben von 1950 bis 1958 das Lebensmittelgeschäft meiner Großmutter, die aus gesundheitlichen Gründen dazu nicht mehr in der Lage war, in der Grillgase 38 (heute ein Türkischer Gemüseladen), und ab 1958 das Geschäft gegenüber in der Grillgasse 35 (heute ein Segafreddo-Cafe).

Sie wohnten von 1947 bis 1950 in der Sedlitzkygasse 14 im Erdgeschoß und danach in der Lorystraße 17/7 gemeinsam mit meinen Kvaček-Großeltern und kurz danach in der Wohnung Nummer 8, die mit der Nummer 7 mit eine zusätzlichen Tür verbunden wurde.

Wie es zu der Verbindung meiner Eltern kam, ist auch einer Folge von Zufällen zuzuschreiben. Immerhin waren beide, Josef und Martha bereits verlobt. Mein Vater mit Annemarie Stapelmann in Neuss, Deutschland und meine Mutter praktisch dem Gärtner Albin Kafka „versprochen“, der von meinen Großeltern ob seiner Qualifikation sehr geschätzt wurde. Doch Neuss und Berlin sind weit weg. Und es mag auch noch andere Gründe gegeben haben, jedenfalls hat sich meine Mutter schließlich für Josef entschieden, gegen den Protest ihrer Eltern (eine Art Trotz dürfte auch dabei gewesen sein).

Und so ist es dann gekommen, dass der Kartonagenvertreter Josef Fiala (mein Vater arbeitete bei Firma Winter, damals im 12. Bezirk) und meine Mutter Martha Kvacek in der Simmeringer Kirche am Enkplatz heirateten.

Meinen Vater faszinierte ein Leben als Lebensmittelhändler. Endlich genug zum Essen! Sein eigener Herr sein! Meine Mutter wieder war zufrieden, einen Mann gefunden zu haben, der in der Lage war, das Geschäft ihrer Eltern weiterzuführen. Denn die Großeltern waren mit ihren Kräften schon am Ende.

Organisatorisch war daher die Ehe ein Hit. Das war’s aber auch schon.

Das junge Paar wohnte ein Jahr lang in der Sedlitzkygasse 14, weil im Haus Lorystraße 17, in dem meine Großmutter wohnte, keine Wohnung frei war. Das Haus in der Sedlitzkygasse 14 war im gemeinsamen Besitz meiner Großmutter, meiner Tante Milly und meines Onkels Tušl. Wahrscheinlich feierte man in dieser Wohnung auch die ersten gemeinsamen Weihnachten.

Dann aber starb die Nachbarin meiner Großmutter, Frau Koubek und meine Eltern konnten in die Lorystraße 17 umziehen. Anfangs waren die Wohnungen noch getrennt, doch nach einiger Zeit wurden die beiden Wohnungen durch eine Tür verbunden. In der größeren Wohnung (Küche und zwei Zimmer) wohnten meine Großeltern, in der kleineren Wohnung (Zimmer + Küche) wohnte meine Eltern. Aber so getrennt, wie das hier klingt, war es nicht. Die Wohnung meiner Eltern war nicht selbständig, denn gekocht hat nur meine Großmutter. WC und eine Sitzbadewanne gab es nur in der Wohnung der Großeltern.

Alles andere war ein einziges Debakel. Bezeichnend ist etwa ein Fotoalbum, das mein Vater für mich angelegt hat. Es hat etwa 40 Seiten, davon sind aber nur die ersten vier benutzt. Dann verliert sich die Freude an der Bilderchronik. Der Grund dürfte eine Art psychischer Overflow gewesen sein. Zuerst eine Doppelbelastung in der Kartonagenfirma und auch im Geschäft meiner Mutter, dann die Kündigung bei Winter, das Leben bei den Schwiegereltern, dazu das gute Essen meiner Großmutter. Von 50 kg auf 100 kg in drei Jahren und nie mehr weniger. Das beschädigt nicht nur den Körper sondern auch die Psyche. Und unter dieser Belastung litt die ganze Familie.

Meiner Mutter erging es nicht viel besser. Auch nicht gerade schlank, dachte sie, dass sie sich aus dem aktiven Geschäft zurückziehen könnte, indem sie das Geschäft meinem Vater überließ. Doch so leicht war das nicht.

Die schönsten Jahre

…waren wohl jene des gemeinsamen Aufbaus des neuen Geschäfts in der Grillgasse 35, gleich gegenüber dem alten Geschäft der Großmutter. Das Geschäft war modern, zwar noch kein Selbstbedienungsgeschäft, dazu war es wohl zu klein aber sonst eine Augenweide. In den ersten Jahren wagten es meine Eltern sogar, einen Lehrling aufzunehmen. Joachim Enz absolvierte seine Lehre zwischen 1958 und 1960 im Geschäft meiner Eltern. Und er war mehr als nur ein Lehrling. Auf Grund seiner späteren Erzählungen und auch einiger Bilder kann man sehen, dass man ihn als Familienmitglied betrachtet und auch behandelt hat. Er verbrachte manchen Sonntag mit mir und war einige Male pro Jahr auch im Auftrag meiner Eltern in Kritzendorf. Ihm verdanke ich grundlegende Kenntnisse in aktueller Schlagermusik, da war er Spezialist und er besuchte mich auch bei meinem Krankenhausaufenthalt bei den Barmherzigen Brüdern. Er brachte mir eine riesige Sammlung von Cartoons (Sigurd, Siegfried, Nick, Nick Knatterton, Mickey Mouse und andere), die ich in einer Art Kurzkurs auswendig lernte. Wir nannten ihn alle „Hans“. Meine Eltern konnten sich mit „Joachim“ nicht recht anfreunden und vereinbarten mit ihm, dass sie ihn „Hans“ nennen dürfen. Ich vermute fast, dass das auch etwas mit dem „Hans“ in der Verkauften Braut zu tun hat, der Lieblingsoper meiner Eltern.

Ihr gemeinsames Berufsleben entwickelte sich so, dass mein Vater den Betrieb ab 5:00 früh führte und meine Mutter dann etwa um 9:00 ins Geschäft kam. Ab 12:30 war das Geschäft bis 16:00 geschlossen, mein Vater brauchte einen Mittagsschlaf, am Nachmittag waren wieder beide im Geschäft und kamen beide etwa um 19:00 nach Hause. Fix und Foxi. Die wenigen Gemeinsamkeiten wurden weniger und eine ständige Entfremdung fand statt. Mein Vater verwendete jede freie Minute auf seine ständig wachsende Briefmarkensammlung, meine Mutter wünschte sich eher ein Unterhaltungsprogramm für die Wochenenden, doch mein Vater war dazu nicht zu motivieren. So ganz unrecht hatte er damit nicht, denn die Gesellschaft – vorwiegend Tschechen ohne besondere Qualifikation – war nicht besonders interessant.

Das liebe Geld

Was es bedeutet hat, Lebensmittelhändler in der Zeit der aufkommenden Großmärkte zu sein, sieht man an den Zettel-Briefen, über die sich meine Eltern ausgetauscht haben.

Brief 1 (übersetzt aus dem Tschechischen):

Mädel, ich muss Dir heute schreiben, dass es sich in diesem Monat mit dem Geld nicht ausgeht. Ich kann nicht alle Erlagscheine bezahlen. Josef

Bemerkenswert ist, dass das Wort „Erlagscheine“ mit „Erlagscheiny“ übersetzt wurde, also bestes Kuchl-Böhmisch.

Brief 2, auf einem Kuvert für Palmers-Gutscheine (übersetzt aus dem Tschechischen):

Mädel, Du wolltest mir S 4000,- geben, damit ich nach Tschechien fahren kann. Weißt Du, zahle damit die Schulden über S 6.000,-, es ist „????“ gekommen. Josef 

Man sieht; es war einfach nie genug Geld da. Oft hat sich meine Mutter Geld von meiner Tante Milly ausgeborgt, oft trug sie ihren Pelzmantel ins Dorotheum zur Belehnung.

Ich wuchs im Prinzip bei meinen Großeltern auf und weniger bei den Eltern.

Der Betrieb des Lebensmittelgeschäfts entwickelte sich von einer einstigen Goldgrube zu einer täglichen Mühsal. Viele der Probleme waren hausgemacht, viele waren aber auch durch die Umwälzungen in der Branche unvermeidlich.

Natürlich spürte meine Großmutter die Probleme und war recht unglücklich darüber, dass sich ihr gut eingeführter Betrieb nicht so entwickelte, wie man es wegen des allgemeinen Wirtschaftsaufschwungs vermutet hätte.

All die Jahre bekam meine Großmutter Post aus Kanada; dorthin war Albín Kafka ausgewandert, hatte dort eine Gärtnerei zu einem Großbetrieb aufgebaut. Sie las eine in Kanada verlegte tschechische Zeitung, die ihr Albin viele Jahre hindurch sandte. Mit großer Wehmut meinte sie, dass ihre Tochter sich schlecht entschieden und den falschen Mann geheiratet hätte.

Der erste gravierende Einschnitt in das Leben meiner Eltern war der Tod meines Großvaters, den meine Mutter sehr geliebt hatte. Auf diese übergroße Zuneigung war meine Großmutter eifersüchtig, weil sie sah, dass mein Großvater, ein geborener Sunnyboy, sich mehr dem persönlichen Vergnügen, eben seinen Hobbies, der Schlosserei, und dem Gartenbau in Kritzendorf hingab. Und diese Sucht zum Freizeitvergnügen übertrug er auch auf meine Mutter, sehr zum Leidwesen meiner Großmutter, die sich mehr Ernsthaftigkeit im Leben ihrer Tochter gewünscht hätte.

Nun war aber Großvater Franz gestorben und es folgten Jahre der Trauer. Die freien Stunden des Nachmittags verbrachte meine Mutter am Friedhof. Der Sonntag Vormittag war eine der wenigen gemeinsamen Unternehmungen, ein Spaziergang zum Friedhof, manchmal mit einem Zwischenstopp bei der Konditorei Albrecht auf der Simmeringer Hauptstraße. Ich bekam ein Bananen- oder Erdbeer-Frappé.

Meine Großmutter hatte ab diesem Jahr gleich mehrfach zu leiden. Einerseits musste sie den mäßigen Geschäftsgang miterleben, die schlecht funktionierende Ehe ihrer Tochter hautnah mit ansehen (man wohnte in derselben Wohnung) und schließlich auch den Niedergang des kleinen Paradieses in Kritzendorf ohnmächtig beobachten. Wenn auch die engsten Freunde bei der „ersten Weinernte nach Franz“ mithalfen, es wurde nichts draus, denn der eigentliche Fachmann, mein verstorbener Großvater, konnte ihnen nicht mehr helfen und so wurde von den vielen Köchen nur Essig und nicht Wein geerntet. Und so ging es weiter: die Bäume wurden nicht mehr geschnitten, nichts wurde mehr geerntet. Die Ribiselstauden verschwanden im Laufe der Jahre ganz von selbst, das Dach wurde durchlässig. Dabei war der eigene körperliche Verfall fast schon eine Nebenfront. Und dennoch fuhr meine Großmutter jedes Jahr in diese grüne Insel am Rande der Stadt, obwohl jeder Aufstieg zur Hütte ziemlich mühsam für sie war.

Es fällt mir auf, dass diese Seite eigentlich meine Eltern betrifft, ich aber immer wieder der Person meiner Großmutter bei meinen Erinnerungen begegne. Sie ist eigentlich die zentrale Person in dieser Geschichte.

Der einzige gemeinsame Urlaub meiner Eltern waren verspätete Flitterwochen im Jahr 1950, zwei Jahre nach ihrer Heirat, gespendet als Abschiedsgeschenk vom Firmenchef Winter, der fast so etwas wie ein Freund meines Vaters geworden ist. Sein Abgang aus der Firma dürfte sehr schmerzlich für Herrn Winter gewesen sein. Familie Winter fuhr gemeinsam mit meinen Eltern für eine Woche nach Venedig.

Alle weiteren „Urlaube“ spielten sich so ab: meine Großmutter verbrachte die Sommermonate in Kritzendorf. Ich war im Juli und August bei ihr und erledigte die Einkäufe, nicht ganz uneigennützig, denn immer wieder konnte man sich bei diesen Einkäufen etwas kaufen. Meine Eltern waren je eine Woche „draußen“. Getrennt. Denn das Geschäft wurde nicht geschlossen.

Es gab eine Ausnahme: eine Woche fuhren meine Mutter und ich mit den Hirmann in deren braunen Fiat nach Salzburg. Ich war vielleicht 8 Jahre alt. Diese Reise führte uns zunächst nach Tauchen, wo die Carda ihren obligatorischen Österreich-Urlaub verbrachten. Danach ging es über Liezen nach Salzburg, wo wir in Kuchl Station machten und dann jeden Tag eine andere Gegend besuchten. Von dieser gemeinsamen Reise wurde noch lang erzählt, sie war eine seltene Ausnahme.

Mein Vater lebte in der Welt der Briefmarken, meine Mutter lebte in Gedanken an eine bessere Zukunft und trauerte um die versunkene Vergangenheit, schließlich neigte sie immer mehr dem Alkohol zu aber auch das hatte seine Wurzeln in der Vergangenheit; einerseits hat sie schon als kleines Mädchen bei den lustigen Gesellschaften mehr Wein als Wasser getrunken, anderseits betäubte sie damit aktuelle Sorgen. Gemeinsam war nur das Geschäft, aber auch dort versuchte man sich mehr und mehr aus dem Weg zu gehen. Das Leben meiner Großmutter fand in der Vergangenheit statt; sie stellte sich lebende oder verstorbene Verwandte vor und führte mit ihnen oft stundenlange Gespräche.

Nach dem Tod meiner Großmutter, 1967, gab es eigentlich nur noch das Ziel der Pension. Die sich verändernde Welt des Lebensmitteleinzelhandels durch die großen Ketten hatte trotz gewisser Standortvorteile des Geschäfts meiner Eltern einen Geschäftsrückgang zur Folge. Die wenig optimale Arbeitsteilung erforderte die Beschäftigung von Angestellten.

Dass ich mein Studium erfolgreich beenden konnte und gleichzeitig mit Silvia in die Nachbarwohnung Tür 9 gezogen bin, trug ein bisschen zur Harmonisierung des Ehelebens bei. Es kam sogar zu einem einzigartigen Ausflug meiner Eltern nach Scheibbs. Sie fuhren mit dem Auto (ein VW Variant, rot). Bei der Heimfahrt bekamen sie eine Verkehrsstrafe – wegen Schnellfahrens!

Die Geschäftsauflösung im Jahr 1979 und der damit wegfallende Existenzdruck war für beide erlösend. Leider währte diese neue Harmonie nur ein Jahr, denn mein Vater verstarb an einem plötzlichen Herztod, unmittelbar, nachdem er von einem Sammlerabend in einem Wirtshaus in der Geiselbergstraße nach Hause gekommen war.

Besitz

Es ist bezeichnend für die Beziehung meiner Eltern, dass der gesamte Besitz ausschließlich meiner Mutter gehörte und meinem Vater nichts. Irgendwie kommt das offen ausgesprochene Misstrauen gegenüber dem Ehepartner wie ein Bumerang zurück. Was meine Mutter ererbt hat, gut, das gehört ihr. Aber was man gemeinsam erwirtschaftet, zum Beispiel das neue Geschäft in der Grillgasse 35, das sollte (nach meinem Verständnis) gemeinsamer Besitz sein; war es aber nicht. Dieses Misstrauen wurde zwar von meinem Vater nicht offen ausgesprochen aber sein Verhalten war das eines Angestellten. Er machte, was zu machen war und widmete sich danach seinem Hobby, den Briefmarken. Eine Art „Dienst nach Vorschrift“. Meine Mutter beklagte zwar fehlende Zweisamkeit aber das dazu nötige Vertrauen in den Partner hat auch irgendwie gefehlt.

Grillgasse 35

Nachdem sich meine Großmutter im Jahre 1949/1950 zugunsten ihrer Tochter aus dem Geschäft zurückgezogen hat, begannen meine Eltern auch schon Zukunftspläne zu schmieden und ich erinnere mich noch, dass ich in das alte Geschäft kam und gegenüber in der Grillgasse 35 noch eine ‚Gstettn‘ war. Auf diesem Platz stand früher ein Haus, das aber im Krieg zerbombt wurde. Der Luftdruck der Detonation hat auch das Haus in der Grillgasse 38 ziemlich beschädigt. Diese Beschädigungen waren noch bis in die 80er Jahre sichtbar, heute ist das Haus aber renoviert.

Die Ausgangssituation meiner Eltern in dem kleinen Geschäft war nicht günstig und wer weiß, wie sich die Sache entwickelt hätte, hätten sie sich auch nur einen Tag später um das Geschäftslokal gegenüber beworben. Es war ja erst in Planung. Jedenfalls war auch im Gemeindebau in der Grillgasse 40 ein sehr großes Lebensmittelgeschäft, die Inhaberin hieß Ility, eine dicke Dame und eine Gasse weiter unten gab es eine Konsum-Filiale, der Markt war auch nicht weit weg. In dieser Situation bewarb sich meine Mutter bei der Wohnbaugenossenschaft um das Geschäftslokal ohne auch nur die Anzahlung dafür zu haben, die hat sie sich wahrscheinlich von Tante Milly ausgeborgt.

Wie hat sie nun dieses Geschäft bekommen? Man muss bedenken, dass einen Tag später die Besitzerin des Geschäfts von Grillgasse 40, Frau Ility ebenfalls bei der Wohnbaugesellschaft vorstellig wurde. Bei der Wohnbaugenossenschaft wurde sie um ihre politische Gesinnung gefragt und die war nun offenbar erst im Werden. Meine Mutter erzählte, dass ihr Vater aus der Arbeiterbewegung stammt und ihre Mutter sich eher dem bürgerlichen Lager zugehörig fühlt. Einer Partei gehörten sie alle nicht an. Es wurde ihr nahegelegt, aus Gründen der Fairness in Zukunft für die ÖVP zu votieren, mehr nicht. Auch die Absicht meiner Mutter, weiterhin den Tschechischen Simmeringer Sozialisten als Mitglied angehören zu wollen, war für den Zuschlag nicht störend. Beachtenswert bei der ganzen Sache war, dass keine Parteimitgliedschaft erforderlich war, das Wort genügte.

Einige Jahre nach Umzug in das neue Geschäft starb Frau Ility und auch ihr Geschäft, durch ihren Mann weitergeführt, konnte sich nicht mehr halten, man musste zusperren. Es sperrte im Laufe der Jahre dann auch der Konsum zu, nicht aber wegen der Konkurrenz meiner Eltern, sondern weil man im neuen Simmeringer Zentrum einen Konsum-Großmarkt eröffnete.

Nun zu den letzten Unterlagen, die vom Geschäft in der Grillgasse 35 bezeugen. Viele Ordner voll mit Unterlagen wurde bereits aus Platzmangel weggeworfen. Ich habe jetzt noch eine einzige Flügelmappe, die aber nur belanglose Details enthält.

Das älteste handschriftliche Dokument stammt von meinem Vater. Es ist ein Lehrzeugnis für den einzigen Lehrling, den meine Eltern hatten, Joachim Enz.

Je ein Satz Steuererklärungen aus den Jahren 1977 und 1978 ist noch erhalten. Dazu die Rückzahlung des Darlehens an den Wohnhaus-Wiederaufbaufonds nach dem das Geschäft zur Gänze in den Besitz meiner Eltern gelangte. Es war dies eine Aktion zur vorzeitigen Rückzahlung, denn die ursprüngliche Laufzeit des Darlehens betrug 75 Jahre.

Nach der Auflösung des Geschäftes im Jahre 1978 (?) übernahm Frau Weiland das Geschäft mit Inventar und zahlte eine Pacht. Probleme gab es genug, wie ein Beleg zeigt, bei dem mein Vater handschriftlich vermerkt hat, dass die Pächterin die Zahlung der Telefongrundgebühr verweigert hat.

Unterlagen zum Geschäft in der Grillgasse 35

Erbe

Alles, was meine Großmutter erarbeitet hat, wurde durch meine Eltern bewahrt und durch den Erwerb des Geschäfts in der Grillgasse 35 sogar erweitert. Das Geschäft in der Grillgasse 35 konnten wir uns nicht behalten, denn wir hätten keine Verwendung dafür gehabt. Aus dem Erlös kauften wir seinerzeit einen Mitsubishi Pajero und einen Wohnwagen. Mit dem Wohnwagen und dem kräftigen Zugfahrzeug fuhren wir 10 Jahre lang nach Kärnten an den Keutschachersee. Dieser jährliche Urlaub war ein sehr willkommener Ausgleich für die überwiegend sitzende Beschäftigung als Lehrer und war ein Paradies für unseren Sohn Florian.

Besitz ist aber nicht alles. Das wichtigste Erbe der Eltern war die Bejahung von Bildung. Das war nicht selbstverständlich, denn die Großmutter tendierte eher zu einem einfacheren Beruf (ihr Traum war „Beamter bei der Post“) und ganz Unrecht hatte sie nicht, denn das Abenteuer „Studium“ hätte auch daneben gehen können. Aber schließlich haben sich alle Mühen gelohnt und es ist mir gelungen, das Studium abzuschließen; leider haben das meine Großeltern nicht erlebt aber trotz aller Widersände haben sie den Grundstein dazu gelegt.

Gesinnung

Da haben sich zwei getroffen: eine Tschechisch-Nationale und ein Deutsch-Nationaler. Aber so schlimm war es nicht. Es war beiden klar, dass die Ismen nur Unheil bringen.

Meine Mutter war als junge Frau eingetragene Sozialistin (bei den Wiener Tschechen, also nicht bei der SPÖ), einfach, weil die Mehrzahl ihrer Freunde auch aus diesem Umfeld kam. Mein Vater stand als Kriegsteilnehmer eher der deutschen Idee nahe. Aber beide Standpunkte schleiften sich sehr bald unter dem Druck der realen Welt ein.

Der Anlass dazu war der Kauf des Geschäftslokals in der Grillgasse 35. Bei dieser Gelegenheit wurde meine Mutter von der Wohnbaugenossenschaft über ihre Parteizugehörigkeit gefragt. Man verlangte nicht, dass sie jetzt zur ÖVP „konvertiert“ aber man hat sie darauf hingewiesen, von wem sie das Geschäftslokal bekommt und es war klar, ab diesem Zeitpunkt waren meine Eltern ÖVP-Wähler, und das änderte sich auch seither nicht.

Bei Meinungsverschiedenheiten bezüglich des Tagesgeschehens tauschte man Freundlichkeiten aus wie „Hitler-Bua“ und „kommunistisches Flintenweib“ aber das waren eher Zeichen der Harmonie als des Gegensatzes.

Ich erinnere mich, dass mein Vater alle möglichen Zeitungen nach Hause gebracht hat und auch wenn er selbst keine Zeit hatte, alles zu lesen, meine Großmutter hatte die Zeit, alles, auch mit einigen Tagen Verzögerung zu lesen. Dagegen verfolgte meine Mutter die Tagespolitik kaum.

Auch die Kronen-Zeitung war bei diesen Zeitungen dabei und ich erinnere mich, dass mein Vater ein großer Verehrer von Richard Nimmerrichter, genannt „Staberl“ war. Eine heute für mich völlig unverständliche Zuneigung.

Artefakte

Aus dem gemeinsamen Besitz meiner Eltern besitzen wir noch einige Meter „Buch“ aus den klassischen Donauland-Zeiten. Von meinem Vater eine Sammlung von Ersttagsstempeln österreichischer Briefmarken.