Meine ersten zehn Lebensjahre sprach ich praktisch nur Tschechisch. Um 1900 wäre das nichts besonderes gewesen aber in den 50er Jahren war das eine Seltenheit. Das wusste ich aber damals nicht. Möglich wurde es, weil sowohl meine Mutter als auch mein Vater Wiener Tschechen waren und die ganze Familie als Umgangssprache Tschechisch sprach. Vielen dieser Wiener Tschechen merkte man auch an, dass ihr Deutsch etwas anders war. Entweder, sie „böhmakelten“ wie meine Großmutter oder verwendeten dieses rollende „r“, wie man es zum Beispiel bei Barbara Coudehove-Callergi oder bei Karl Schwarzenberg hört, wenn sie deutsch sprechen.
Die Tschechen waren nicht gleichmäßig auf Wien verteilt, und es gab Bezirke mit einem besonders hohen Anteil von Tschechen, wie zum Beispiel Ottakring, Brigittenau oder Favoriten. Favoriten war der „Šesták“-Bezirk, abgeleitet von einer kleinen Münze, dem Sechs-Kreuzer-Stück.
Die Simmeringer Tschechen waren eine kleine Gruppe und schlossen sind im Laufe der Zeit immer mehr an die Landstraßer Tschechen an, wenn es um die Organisation von Veranstaltungen ging.
Den Kern dieser tschechischen Minderheit bildeten jene Familien, die als Umgangssprache Tschechisch sprachen also beide Ehepartner Tschechen waren. Wenn einer der Ehepartner ein deutsch sprechender war, verschwand das Tschechische als Umgangssprache und auch die Kinder gingen dann praktisch automatisch in eine deutsche Schule.
Die Familien meiner Großelterngeneration waren in diesem Sinne alle Tschechen. Aber bereits deren Kinder sprachen bereits Deutsch in der Familie. Eine Ausnahme waren eben die Fiala, weil beide Ehepartner Tschechen waren.
Tschechen bewegten sich vorzugsweise unter Tschechen. Der erste Hausarzt, Dr. Kolman war ein Tscheche, der zweite, Dr. Rauscha war mit einer Tschechin verheiratet. Der Tischler, Herr Zavadil, war Tscheche, kurz: eine Parallelgesellschaft.
Hier ein paar Familiennamen dieser „Parallelgesellschaft“: Beránek, Brož, Carda, Čadek, Dalecký, Fiala, Halásek, Homolka, Hradil, Hrdlička, Hromádka, Janík, Kincl, Kalenda, Klíma, Kofroň, Kolman, Konečný, Kopřiva, Koranda, Kosík, Košťál, Kolomazníček, Košinský, Kouba, Kratochvíl, Kvaček, Moravec, Němec, Patloch, Pecha, Peksa, Plachý, Pohan, Pohanka, Přinesdoma, Šimák, Sitlý, Šlosar, Šrámek, Stidrý, Švagerka, Těšínský, Tlapa, Tůma, Tušl, Tylman, Urbánek, Vaněček, Zavadil.
Wenn Feste veranstaltet wurden, dann entweder in einem der zahlreichen Wirtshäuser oder – einmal im Jahr als Ball – im Simmeringer Brauhaus.
Die Tschechen waren und sind – wie die Wiener – Vereinsmeier. Jeder war in wenigstens einem Verein organisiert, meist aber in mehreren.
Staatsbürgerschaft
Die Wiener Tschechen bekamen nach dem ersten Weltkrieg von der tschechischen Regierung das Angebot eine tschechische Staatsbürgerschaft zu erhalten und dabei weiterhin in Wien leben zu bleiben. Von diesem Angebot haben nach Herrn Hradils Schätzung etwa 2/3 aller Wiener Tschechen Gebrauch gemacht. Dazu zählten auch Familie Hradil, meine Kvaček-Großeltern und auch Familie Carda. Offensichtlich wollte man sich eine spätere Wahlmöglichkeit nicht vergeben, denn durch die lange Aufenthaltszeit in Wien konnte man ja darauf rechnen eine österreichische Staatsbürgerschaft auch später noch bekommen zu können, was dann auch nach dem Krieg der Fall war.
Familie Fiala (meine Großeltern) war aber zu diesem Zeitpunkt bereits in Österreich eingebürgert, aus Gründen die jetzt niemand mehr kennt.
Sport
Eine wichtige Facette der Tschechen war der Sport. Die Vereine Slovan und Sokol sind auch heute noch bekannt. Die bekannteste Sportanlage der Tschechen war der Tschechische Herz Platz in Favoriten (eröffnet 1924, heute Generali-Arena, vorher Franz Horr-Stadion) in Favoriten. Es gab auch einen Sokol-Turnsaal in der Ettenreichgasse. Mit beiden Veranstaltungsorten verbinde ich besondere Ereignisse. In der Ettenreichgasse fand einmal eines der zahlreichen Festivitäten der Tschechen statt, bei dem auch die Eltern meiner Taufpatin dabei waren.
Ein zentrales Element der tschechischen Turnvereine ist das Schauturnen „Spartakiade“, das wie eine Olympiade alle vier Jahre stattfindet. Die in die ganze Welt verstreuten Tschechen lernen in ihren lokalen Turnvereinen die Choreografie in der kleinen Gruppe und reisen dann zu der gemeinsamen Veranstaltung in das jeweilige Gastland.
Die letzte dieser gemeinsamen Spartakiaden auf tschechischem Boden war 1948 in Prag, bei dem auch meine schwangere Mutter und meine Tante Míla teilnahmen. In der Zeit des Eisernen Vorhangs wurden diese Sportvereine in der CSSR verboten, doch die Auslands-Tschechen organisierten unabhängig davon diese Sportfeste an wechselnden Orten in der Welt. Ich selbst war bei zwei dieser Spartakiaden dabei: als Kind in Wien, ca. 1964 und dann bereits mit meiner Frau Silvia, nach dem Tod meines Vaters in Zürich 1986.
Eine Reihe von Fotos berichtet von dem letzten Schauturnen in Wien 1964. von diesem Ereignis. Wien als Schauplatz für diese Spartakiaden war immer etwas besonderes; einerseits durch die Nähe zu der tschechischen Heimat und anderseits durch die große Zahl der hier ansässigen Tschechen. Bei dieser Veranstaltung gab es auch ein kulturelles Rahmenprogramm. Etwa fand am Vortag ein Konzert unter der Leitung von Raphael Kubelík, dem tschechischen Stardirigenten statt.
In den Jahren danach wurde die Sportanlage „Tschechisches Herz Platz“ an die Gemeinde Wien verkauft. Die Erlöse wurden angelegt und von den Zinsen veranstalten die Tschechen bis heute alljährlich Feste.
Schulen
Anders als die Türken heute, hatten die Tschechen eigene Schulen. 1933 zählte man 35 tschechische Schulen (Bis zum Ende des ersten Weltkriegs waren diese Schulen oft inoffiziell geführte Vorstadtschulen.) Es gab über die Schulen einen Vertrag, der kurz nach dem Ersten Weltkrieg zwischen der Tschechoslowakei und der Stadt Wien abgeschlossen wurde. Demnach waren – und das ist das Wichtigste – alle tschechischen Schulen mit Öffentlichkeitsrecht ausgestattet. Die Bezahlung der Lehrer erfolgte durch die Gemeinde Wien, die Erhaltung der Schulen aber durch den tschechischen Staat.
Die Organisation der Schulen geht auf einen berühmten Pädagogen, Johann Amos Comenius zurück. Seine Lehre war damals, im 16 Jahrhundert, richtungsweisend und seiner Zeit weit voraus. Was für eine bevorzugte Ausbildung ich selbst im Kindergarten und in der Volksschule genießen durfte, wurde mir erst klar als ich in die deutsche Realschule wechselte. Im Rückblick weiß ich, dass ich damals etwas erlebte, um das sich heute die Politiker von Rot und Schwarz streiten, nämlich die Ganztagsschule. Es war damals ganz selbstverständlich, dass alle Kinder, deren Eltern berufstätig waren in der Schule bleiben konnten, dort betreut wurden und mit fertigen Hausaufgaben nach Hause kamen. Das Wohl der Kinder war das zentrale Anliegen der Schule (nicht das Wohl der Lehrer).
Wie sich Schule bei den Wiener Tschechen aber auch abgespielt hat, zeigt ein Foto aus der der Zeit des Ersten Weltkriegs, das meinen Großonkel Richard Tušl in seiner Volksschulklasse zeigt. Diese Klasse war in im Simmeringer Gasthaus Švagerka in der Kopalgasse 3 untergerbracht.
Von meinem Vater, meiner Mutter und meiner Tante Milli kann ich deren Schulbesuch an Hand der Zeugnisse mitverfolgen. Meine Tante und auch meine Mutter besuchten die tschechische Schule in der Brehmstraße in Simmering. Der dortige Direktor, Herr Patloch, wohnte bis 1938 auf Tür Nummer 7 im Haus Lorystraße 17. Meine Tante hat auf Grund einer Entscheidung ihrer Eltern den Schulbesuch der Handelsschule abgebrochen; offenbar musste sie im Geschäft mithelfen. In ihrem Zeugnis stand der sehr wohlwollende Vermerk, dass sie als ausgezeichnete Schülerin jederzeit wieder in der Schule eintreten könne. Das war in den zwanziger Jahren. Meine Mutter war etwas jünger. Sie wurde von einer Angestellten meiner Großmutter, meiner Tante Hanni betreut. Sie holte meine Mutter von der Brehmstraße ab und ging mit ihr durch die Hauffgasse in die Wohnung in der Sedlitzkygasse. Dabei gingen sie am Geschäft ihrer Tante Maria Peksa vorbei und dort bekam sie regelmäßig Süßigkeiten von der Tante – sehr zum Nachteil für die Zähne, wie sie später erfahren musste.
Meine Mutter wechselte nach der Hauptschule in der Brehmstraße in die ebenfalls tschechische Handelsschule in der Vorgartenstraße im 2. Bezirk.
Mit diesem Idyll war es 1938 abrupt vorbei. Die Tschechischen Schulen wurden in deutsche Schulen umgewandelt, die Lehrer entlassen. Nur die Kürze des „Tausendjährigen Reichs“ verhinderte, dass die Tschechen in Wien (und die Slawen allgemein) ein ähnliches Schicksal erfuhren, wie die Juden und Roma vorher. Die Repression des Tschechischen in Wien war allgegenwärtig. Das letzte Zeugnis meiner Mutter aus dem Jahr 1937/38 ist bereits deutsch ausgestellt. Meine Mutter beendete dann den Schulbesuch – offenbar ohne Abschluss.
Rückwanderer
Schon nach dem Ersten Weltkrieg gab es eine starke Rückwanderwelle der Tschechen in die Tschechoslowakei, doch das gute Klima des Roten Wien der Zwischenkriegszeit bot den Zurückgebliebenen (darunter auch allen Familien meiner Großelterngeneration) eine gute und friedvolle Existenzmöglichkeit, ganz im Gegensatz zur feindseligen Behandlung durch das Lueger’sche Wien der Jahrhundertwende.
Für viele Wiener Tschechen war das Jahr 1938 und dann das zerstörte Wien nach 1945 der Anlass, auszuwandern, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Meine Großeltern waren wegen ihres Besitzes nicht flexibel, außerdem war meine Großmutter eine überzeugte Österreicherin geworden und konnte mit dem Tschechisch-Nationalen Gehaben meiner Mutter nichts anfangen.
Im Umfeld meiner Eltern und Großeltern sind gleich drei Personen in die Tschechoslowakei rückgewandert:
Antonie Pohanková (geborene Urbanek). Meine „Tante“ Toni, hier in Wien geboren hat einen Tschechen geheiratet und hat der Angebot des tschechischen Staates angenommen, eines der zahlreichen freistehenden Häuser der Sudetendeutschen zu übernehmen. Sie zog nach Nýrsko an der tschechisch-bayrischen Grenze am Rande des Böhmerwaldes. Das Problem war der Ehemann, der hier in Wien wegen der Sprachbarriere keine Arbeitsmöglichkeiten hatte.
[Ich weiß nicht, ob allen diesen Übersiedlern klar war, zu wessen Lasten sie das neue Heim bekommen haben. Was ich aber weiß, dass alle diese Nationalismen, egal von welcher Seite, nicht Gutes bedeuten, auch wenn sie in Friedenszeiten harmlos erscheinen. Meine naive Frau Mutter hat mit großer nationaler Begeisterung bei den diversen Spartakiaden, eine davon war 1948 in Prag, teilgenommen, wohl wissend, dass dieser Staat ein Jahr zuvor Hunderttausende Menschen vertrieben hat. Der Sport hat das irgendwie an sich, dass er unabhängig von der politischen Lage agieren will. Unter dem Motto, dass ja die Sportler nur diese wenigen Chancen haben. Sie haben nur dieses eine Leben. ]Ich war im Jahr 1968 als 20jähriger bei den Pohanka zu Besuch. Wer diese Orte gesehen hat, glaubt fast nicht, dass da irgendwer zugezogen ist. Die Orte wirken auch 25 Jahre nach dem Krieg irgendwie verlassen. Es waren geschichtsträchtige Tage, denn es waren die Augusttage des Einmarsches der Warschauer Pakt Staaten in der Tschechoslowakei.
Štepánka Langweilová (geborene Fiala), meine Tante heiratete einen Tschechen, einen Drucker und zog mit ihm nach Jindřichuv Hradec/Neuhaus. Wie es zu dieser Verbindung kam, weiß ich nicht; auch weiß ich nicht, ob sie ein Rückwanderungsnagebot angenommen hat. Ich besuchte meine Tante zwei Mal, zuletzt mit 13 Jahren. Sie selbst war mit ihrem Mann und meiner Cousine Marcela mehrmals in Wien und wohnte bei uns. Zuletzt besuchte sie uns in den 90er Jahren.
Diesen Absatz kann ich jetzt ergänzen, denn meine Tante Míla erzählte mir, dass Tante Steffi ihren Gottfried als tschechischen Zwangsarbeiter in Wien kennen gelernt hat.
Gustav Hradil, ein Schulfreund meines Vaters, der ein Angebot seiner Firma, der Živnostenská Banka/Gewerbebank in Wien annahm (die Bank wurde 1938 in Wien aufgelöst) und in die Filiale in der Slowakei wechselte, danach seine Frau kennenlernte und später als kaufmännischer Direktor einer Papierfabrik in Ružomberok in der Slowakei arbeitete und dort auch wohnte. Ich war mit 17 Jahren einmal einen ganzen Monat lang bei Familie Hradil. Meine Mutter brachte mich mit dem Auto (VW-Variant) nach Bratislava und von dort fuhr ich mit dem Zug mit Herrn Hradil (ja, wir waren immer „per Sie“) nach Ružomberok. Er wohnte in einem typischen dreistöckigen Plattenbau gemeinsam mit Arbeitern seiner Firma. Einen Standesunterschied gab es ja in dieser Welt nicht. Ein Lackierer, der einen Stock über den Hradil wohnte, verdiente mehr als sein Direktor. Es besaß auch ein Auto, während der Direktor nur mit einem Moped unterwegs war. Familie Hradil war oft bei uns in Wien. Gustav war wie mein Vater ein Briefmarkensammler aber er betrachtete das Sammeln und den Verkauf von Briefmarken auch als eine Möglichkeit, Geld zu verdienen, zum Beispiel, um sich den Wien-Aufenthalt zu finanzieren. Dagegen lag bei meinem Vater die Betonung auf „Sammeln“ und nicht auf „Verkauf“. Es sollte noch zu vielen Begegnungen mit den Hradil kommen, auch nach dem Tod meiner Eltern. Ich berichte darüber an anderer Stelle.
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